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Kinderland ist abgebrannt
... zur Erinnerung an Deine Schulfreundin, Ulm 1934
Ein Dokumentarfilm von Sibylle Tiedemann
und Ute Badura, 1998
Montage: Inge Schneider
Drehorte: BRD, Israel, USA
16 mm, Farbe, 90 Minuten
Nominierung Deutscher Filmpreis 1998,
Dokumentarfilmpreis der Stadt Potsdam 1998,
Nominierung Adolf Grimme Preis 2000,
Prädikat ‘besonders wertvoll’
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Zwölf Frauen, heute alle über 70 Jahre alt, erinnern sich an ihre
Kindheit in der süddeutschen Kleinstadt Ulm. Sie gingen auf dieselbe
Schule, wer jüdischen oder christlich Glaubens war und welche politische
Haltung die Eltern vertraten, spielte keine Rolle. Dies änderte
sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten schnell und
gründlich.
Binnen kurzer Zeit wurde der Großteil der Kinder und Jugendlichen
in die Hitlerjugend und ihre Verbände eingebunden, die Bedeutung
von Elternhaus und Schule trat in den Hintergrund. Es entstand die
Gemeinschaft der deutschen völkischen Jugend, die mit Uniformen,
Aufmärschen, Liedern und Gruppenfahrten, Diensteinsätzen und Sportveranstaltungen
den Alltag der Kinder mehr und mehr ausfüllte und bestimmte. Zunächst
ausgegrenzt, später verfolgt wurden alle, die aus dem völkischen
Raster fielen, Kinder jüdischen Glaubens oder solche mit kommunistischen
oder sozialdemokratischen Eltern.
In den Erzählungen der Frauen heute wird diese Zeit wieder lebendig.
Anfangs sind es ähnliche Ereignisse, die in spürbar unterschiedlicher
Erinnerung geblieben sind: die SA-Fackelzüge durch Ulm, von den
einen als fasziniered, von den anderen als bedrohlich empfunden,
die Lieder, die die einen durch die Stadt marschierend singen, und
die die anderen ausschließen. Je weiter die Chronologie der Ereignisse
voranschreitet, desto notwendiger gehen die Erfahrungen auseinander.
Den jüdischen Schülerinnen wird der Zutritt zu Kinos, Schwimmbädern,
öffentlichen Einrichtungen ihrer Heimatstadt verboten, schließlich
werden sie vom Schulunterricht ausgeschlossen. Der Druck auf die
jüdische Bevölkerung nimmt zu, viele Eltern verlieren ihre wirtschaftliche
Grundlage. Die jüdische Gemeinde, die in Ulm nicht mehr erwünscht
ist, rückt zusammen, gründet eigene Vereine, Restaurants, Jugendgruppen,
bis schließlich die Emigration als einziger Ausweg bleibt.
Die christlichen Mitschülerinnen werden von der HJ und der Jungmädelgruppe
vollständig in Anspruch genommen. Die Ausgrenzung ihrer jüdischen
Mitschülerinnen nehmen sie kaum wahr. Ihr Interesse gilt mehr ihrem
Vorbild Sophie Scholl, die auf dieselbe Schule geht und für viele
die erste Jungmädelführerin in der HJ ist. Die Entwicklung der Geschwister
Scholl von Repräsentanten der Hitlerjugend zum Widerstand der Weißen
Rose gegen das "Dritte Reich" haben sie nicht mitverfolgt und ist
bis heute für viele schwer nachvollziehbar. Der weitere Weg der
Mädchen ist durch den Krieg gekennzeichnet, die Pflichterfüllung
im Reichsarbeits- und Kriegshilfsdienst, die Siegereuphorie der
ersten Kriegsjahre, die Zweifel, die erst nach den Bombenangriffen
auf Ulm aufkommen.
Die mit Begeisterung erlebten Erfahrungen in der Hitlerjugend prägen
bis heute die Erinnerung und erschweren den Zugang zu der Frage
"Wie konnte es dazu kommen?" Die ehemaligen jüdischen Mitschülerinnen
leben heute in Israel oder den USA. Trotz der Erfahrung von Diskriminierung,
Vertreibung der Familie und dem Tod naher Verwandter sind nicht
nur bittere Gefühle mit der früheren Heimat verbunden, was sich
auch in ihrem schwäbischen Akzent widerspiegelt.
Eine Begegnung zwischen den jüdischen und christlichen Schulkameradinnen
ist heute möglich. Nach 60 Jahren treffen sich einige der damaligen
Schülerinnen zum "Klassentreffen" wieder. Der Film läßt sich und
seinen Protagonistinnen Zeit. Langsam und geduldig, ohne kommentierenden
Begleittext, setzen sich die Erinnerungen zu einem vielschichtigen
und eindringlichen Bild dieser Frauengeneration zusammen, unterstützt
von Amateurfilmmaterial und persönlichen Dokumenten, die veranschaulichen,
Gegensätze schaffen, das Erinnerte in ungewohnte und beunruhigende
Nähe rücken. Die trennenden Erfahrungen, die unterschiedlichen Schicksale
und Lebenswege werden spürbar, ebenso die Notwendigkeit und das
Bedürfnis, die Erinnerung in Gesprächen wieder wachzurufen. Für
die einen hat es ein Kinderland in Ulm nach 1933 nicht mehr gegeben,
für die anderen verliert es im Rückblick eine Unschuld, die es nie
besessen hat.
Produktion
Ute Badura und
Sibylle Tiedemann
Weltvertrieb
Deckert Distribution GmbH
Marienplatz 1
D-04103 Leipzig
Tel.: +49 (0) 341 215 66 38
Fax: +49 (0) 341 215 66 39
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Kinoverleih
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